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Belle Époque revisited
(10/10/03, mehrmals ergänzt 2011/12/13 und 2016/17/18 sowie 2020)


Bex im Chablais vaudois, knapp ein Dutzend Kilometer Rhône-aufwärts von Aigle gelegen, liegt am Fuss einer rund 50 km² weiten, salzhaltigen Gegend. Der Abbau in den Salinen von Bex begann um 1680, und die Thermalquellen förderten das Entstehen der Hotelindustrie: Das Wasser hatte den Ruf, über 50 Krankheiten zu heilen, darunter die häufig diagnostizierte Blutarmut und die Volkskrankheit Rheuma.

«Salines de Bévieux»
die Salinen von Bévieux (le Bex Vieux), ein Kupferstich von 1780

Es herrschte grosser Andrang zur «Perle der Badekurorte», und die Belle Époque brachte die Kuranstalten von Bex zur Hochblüte: «… the Swiss town of Bex, home of the ‹grape-cure› and affording lovely salt baths in all the finer hotels (for instance, Hôtel des Salines, Grand Hôtel des Bains). Bex is also notable for its little electric tramway which, for 10c, will transport you from the main train station to the marketplace».

«C.d.F. Électrique Bex-Gryon-Villars, Plakat»
Chemin de fer électrique Bex-Gryon-Villars, 1900, Plakat

Um die Sole nach Bex-les-Bains zu bringen, war im späten 18. Jahrhundert ein rund 7.5 Kilometer langer Aquädukt aus Lärchenholz gebaut worden, und ab 1882 wurde das schwefelhaltige Wasser vom Coulat-Stollen durch Bleirohre direkt in die Bäder des 1871 eröffneten «Hôtel des Salines» geleitet. Am 9. September 1898 übergab man der Öffentlichkeit die Strecke vom Bahnhof der Jura-Simplon-Bahn in Bex nach Bévieux, und der «von Fremden stark besuchte Gasthof» war nun bequem mit der elektrischen Strassenbahn zu erreichen. Das in Reiseberichten gelobte Kurhotel — mit üppiger Bibliothek, einem Park, Grotten, Kaskaden und einem Kutschendienst (in heutigen Begriffen ein «wellness resort» erster Klasse) — zog gekrönte und freigeistige Gäste an, u.a. Viktoria Luise (Adelheid Mathilde Charlotte) Prinzessin von Preussen, Lew Nikolajewitsch (Leo) Tolstoi, den provokativen Denker Friedrich Nietzsche, die Schriftsteller Alexandre Dumas père, Gustave Flaubert, Guy de Maupassant und Victor Hugo, den Komponisten Rimskij-Korsakov sowie 1968 den äthiopischen Kaiser Hailé Sélassié.

«Société Immobilière de Bex, 1868»
der «Domaine du Montet», das höchstgelegene Weingut im Vaud,
liegt über den Salzlagern von Bex; die Wurzeln der Rebstöcke dringen
Dutzende Meter tief, ziehen die Sole mit in die Pflanze und geben
diesem herrlichen Wein einen unvergleichlichen, leicht salzigen Ton

Samuel N. Watson schrieb 1913: «… we went to Bex in Switzerland, and from our balcony terrasse at the Grand Hotel des Salines we saw a morning and an evening miracle, the majestic Dent du Midi painted in all the colours of the Aurora by the rising and the setting sun»¹. Überliefert sind auch Frances Anne «Fanny» Kembles Briefe an «H—», zwei davon verfasste sie 1878 in Bex und beschrieb u.a. den wundervoll bewaldeten Park und den «water jet». Der Künstler Francis Picabia weilte wahrscheinlich ums Jahr 1921 in Bex und hinterliess eine Zeichnung auf Hotel-eigenem Briefpapier, und auch Vladimir Nabokov (der Autor von «Lolita») kurte vom 10. Mai bis Anfang Juli 1968 im Hôtel des Salines. Princess Royal «Vicky» und Sohn Wilhelm waren 1873 während sechs Wochen im «splendid Hotel des Salines» zu Gast, und Irma Gräfin Sztáray — in deren Armen Sissi, die Kaiserin von Österreich und Königin von Ungarn am 10. September 1898 starb — berichtet in «Aus den letzten Jahren der Kaiserin Elisabeth» von ihrem Ausflug nach Bex-les-Bains, wenige Tage vor dem tödlichen Attentat in Genf.

«Aus den letzten Jahren der Kaiserin Elisabeth»
die Erinnerungen der Vertrauten und letzten Hofdame
(Wien 1909, Verlag Adolf Holzhausen)

And where's the beef? Vor vielen Jahren, bei der Expertise eines Archivs, stiess ich auf acht geschundene Blatt Papier: Wieder mal anonyme Immobilientitel … weder Eisenbahnen oder Automobile noch Banken oder sonstwie ein burner, zudem in ziemlich lausigem Zustand — kein Jackpot, Altpapier fürs Recycling — und dennoch, irgendwie hübsch; meine Neugierde war geweckt. Handelseinig brachte ich den kleinen Posten heim und fragte mich, ob er wohl den zusätzlichen Aufwand wert sei …

«Société Immobilière de Bex 1868; vignette centrale»
die mittlere Vignette

Nach der Restaurierung schaute ich die Dokumente genauer an: ein Druck der Imprimerie Pilet & Cougnard in Genf, grossformatig (aber unterschiedlich geschnitten, etwa 35 x 25 cm im Blatt), eine «Société Immobilière de Bex», gegründet auf 50 Jahre am 16. September 1868 in Lausanne, sechs feine Abbildungen, mit anscheinend acht «fondateurs», denen je ein Achtel eines Fünftels des Ertrags durch diese Anteile statutarisch zugesichert worden war … Vor mir lagen acht Titel — war das möglicherweise die vollständige Gründerauflage, doch vor allem: Welche Immobilie war vor fast 150 Jahren einen solch verschwenderisch teuren Druck wert gewesen? Dann entdeckte ich in der Mittel-Vignette einen Text, den ich mit der Lupe entziffern konnte.

«zooming the hotel name»
der 9 mm-Schriftzug im Mittelbau, oberhalb des zweiten Stocks

Tatsächlich — sämtliche acht Gründerstücke des «Grand Hôtel des Salines», äusserst seltene wirtschaftsgeschichtliche Zeugen der Geburt eines vor rund hundert Jahren berühmten Schweizer Hotels, und attraktiv sind die Titel auch: mittig das prächtige Gebäude mit Umschwung, links oben die Kirche von Bex, rechts die Tour de Duin, unten links der Blick auf die mächtige Dent-du-Midi und rechts eine idyllische Dorfansicht.

«die Hotelterrasse»
ein Schmuckstück der Schweizer Hotellerie
 
à vol d'oiseau
>à vol d'oiseau
à vol d'oiseau I
à vol d'oiseau II
 
um 1890
um 1896
um 1905
um 1945
Dépendances
Mai 1896
um 1905
um 1945
 
le Parc
le Parc
le Jet
le Jet
le Parc I
le Parc II
le Jet I
le Jet II
 
le Bazar
la Véranda
le Hall 1
le Hall 2
le Bazar
la Véranda
le Hall I
le Hall II

la Salle à manger
la Salle à manger


Die Wertpapiere tragen bedeutende Unterschriften und Namen, denn die acht Gründer und Besitzer je eines «titre de fondateur» waren:

«Société Immobilière de Bex, 1868»
Société Immobilière de Bex, Lausanne 1868, Gründeranteil o. Nennwert

Sechs Anteilscheine sind unterschrieben von Präsident Bory-Hollard und Sekretär Carrard, ihre zwei eigenen Titel tragen die Signatur von Recordon als Vertreter des Präsidenten bzw. des Sekretärs. Der Gründeranteil ist ohne Nennwert, aber Dank einer hinterlegten Kaution, der vermerkten Dividendenzahlung sowie eines nachweislichen Verkaufs bzw. Umtausches lässt sich der damalige Wert schätzen: 1875 diente Rufenachts Anteil als Garantie für eine Ladung Bordeaux-Wein im Wert von CHF 10'900, 1899 zahlte die Gesellschaft je CHF 350 an die acht Gründer (5% Verzinsung war statutarisch vorgeschrieben, der Wert je Anteil also um die CHF 7'000), im April 1907 tauschte die Gesellschaft Recordons ursprünglichen Anteil um gegen drei Obligationen zu je CHF 1'000, und 1911 kaufte sie einen Anteil gegen CHF 2'500 in bar zurück; das eingeschossene Kapital dürfte also etwa CHF 40'000 wert gewesen sein, finanziert von den Gründern mit je CHF 5'000. Ein Anteil — berechnet mit dem Historischen Lohnindex HLI (die Umrechnung anhand des Konsumentenpreisindex KPI ergäbe kein realistisches Bild) — entspricht heutigen rund CHF 375'000, und das Kapital der acht Gründer also etwa drei Millionen Franken.

«Gd Hotel Salines cover»
Briefumschlag, 1900

Nach dem 1. Weltkrieg konnte die Hotellerie die gestiegenen Erwartungen und geänderten Bedürfnisse der Touristen nicht mehr befriedigen und erlebte einen groben Einbruch. Wahrscheinlich kam es auch beim Hôtel des Salines zur Sanierung, denn im Markt bekannt sind seit längerem die drei kleinformatigen Titel vom 26. Mai 1930: Es sind jüngere Aktien des Grand Hôtel (wie der rückseitige Statutenauszug zeigt), und sie stellten das gesamte Kapital dar. Diese zweite Gesellschaft ging ebenfalls Pleite, am 9. Juni 1936, und am selben Tag wurde neu die Firma «Société de l'Hôtel des Salines» ins Handelsregister eingetragen (mit Sitz in Bex, später mit dem Zusatz «SA»), und wieder gings schief, denn das Hotel wurde 1938 für nur CHF 190'000 verkauft. Die Umwälzungen der 1950er und 60er brachten unerwartet gewaltige Herausforderungen, und viele Unternehmen verpassten den Anschluss endgültig — 1976 stellte auch das knapp hundert Jahre zuvor eröffnete Hôtel des Salines seinen Betrieb ein.

«Société Immobilière de Bex 1930»
Société Immobilière de Bex, Lausanne 1930;
das AK damals CHF 673'500, eingeteilt in 6'735 Aktien zu CHF 100

1977 erstrahlte das altehrwürdige Haus nochmals im Rampenlicht: Der Schweizer Regisseur Michel Soutter drehte hier den Film «Repérages» — aka «Location Hunting» und «Faces Of Love», übersetzt als «Rollenspiele» und erschienen im Verleih Gaumont — nach Anton Tschechows Schauspiel «Drei Schwestern» mit Jean-Louis Trintignant, Delphine Seyrig, Valérie Mairesse und Lea Massari, untermalt mit der Musik von Arie Dzierlatka.

Repérages poster
Repérages, 1977, Plakat, 160 x 120 cm


Repérages, 1977, bande-annonce/trailer

Soutter «war ein sanfter Rebell und poetischer Erzähler. Seine Filme gehören zu den leisen und eigenwilligen, den kleinen Kunstwerken für Cineasten; allen voran ‹Repérages› (…)»³. In einem Gespräch sagte Soutter: «J'essaye (…) de rendre la poésie quotidienne»4 — das Hôtel des Salines war Repérages' lyrisches Bühnenbild.

Michel Soutter & Jean-Louis Trintignant
Michel Soutter und Jean-Louis Trintignant;
die Bilder sind Fotos vom Set und farbige Szenen für den Kinoaushang
   
Valérie Mairesse & Delphine Seyrig
Lea Massari & Delphine Seyrig
Delphine Seyrig & Jean-Louis Trintignant
Delphine Seyrig & Lea Massari
Esther/Julie
Cécilia/Julie
einst ein Paar
Olga/Macha
     
Lea Massari
das Quartett: Trintignant Seyrig Massari Mairesse
Lea Massari & Delphine Seyrig
Delphine Seyrig
Cécilia/Macha
Quartett
Cécilia/Julie
Julie/Olga



Delphine Seyrig (als Julie & Olga) und Lea Massari (als Cécilia & Macha)
in einer intimen Szene


Am 5. Januar 1981 brannte das denkmalgeschützte, aber baufällige Gebäude vollständig ab («un spectaculaire incendie» — anscheinend waren es alte Matratzen, die an einer elektrischen Birne Feuer fingen). Fast nichts erinnert heute an diesen grandiosen Zeugen der «Belle Époque», an das einst so leuchtende Grand Hôtel voller Geschichten. Doch mit Musse gibt man den stummen Zeugen Zeit, ihre Geschichte zu erzählen.

Haltestelle «Les Salines»
die erneuerte Haltestelle «Les Salines»
   
die Pfeiler
Chemin de la Solitude
das Nachbarhaus
die Hütte
«les piliers»
chemin I
Nachbarschaft
Reste
 
Gewächshaus
Chemin Philippe Allamand
Kühe
Tennis Court
Gewächshaus
chemin II
im Park
tennis court
   
swimming pool
harp tree
Tour Duin
Dent du Midi
swimming pool
playing harp
Tour Duin
Dent du Midi

at the Plateau
auf dem Plateau oberhalb der Baumreihe stand das «Hôtel des Salines»


«le Bazar», der Kiosk des Grand Hôtel widerstand der Feuersbrunst und wurde dann der Natur überlassen. Es muss ein bauliches Schmückstück gewesen sein, und trotz des desolaten Zustandes kann man die einstige Schönheit erahnen

le bazar
der filigrane Nebenbau
   
le bazar 2
le bazar 3
le bazar 4
le bazar 5
bazar II
bazar III
bazar IV
bazar V


… und schliesslich, mitten im Grün, der standfeste Zeuge …

Hydrant
… gut geplant, aber letztlich unnütz: der heimatlose Hydrant.

PS: Schaut man beim Spazieren, am ehemaligen Tennis Court des Hôtel des Salines in Richtung Dent du Midi, entdeckt man nicht weit entfernt diesen auffälligen Bau:

Dent du Midi & Villa des Bains
… es ist die ehemalige Hotel-Pension «Villa des Bains»

Ein vor fast zehn Jahren aufgetauchtes Einzelstück zeigt die Entwicklung: Ursprünglich vorgesehen war ein Aktienkapital von CHF 200'000, eingeteilt in 400 Aktien zu je 500; schliesslich gezeichnet und ausgegeben wurden dann 340 Stück. Die Generalversammlung vom 27. Mai 1925 setzte das AK herab auf CHF 68'000 — den Nennwert der Stämme strich man auf 200 — und erhöhte es gleichzeitig um CHF 62'400 mittels Ausgabe von 832 Prioritätsaktien à 75. Die (ausserordentliche) GV vom 21. März 1936 beschloss dann, diesen Titel im Nennwert auf einen Franken herabzusetzen (also praktisch wertlos zu erklären) und die Prioraktien um einen Drittel auf 50 zu kürzen. Das Vermögen betrug einen Weltkrieg später und nach der Grossen Depression nur noch CHF 41'940 — nominal weniger als ein Viertel des fast 60 Jahre zuvor gezeichneten Kapitals, und real verlor man sogar mehr als 90% … 1940 ging die Firma Konkurs, heute wird das Haus privat bewohnt.

Villa des Bains, Aktie 1878
Société Immobilière de la Villa des Bains, Bex 1878, Aktie zu CHF 500

PPS (Dec2013): Im Zusammenhang mit dem Gelände des Hôtel des Salines erschien im April 2010 ein Artikel zu einem Projekt für ein Autismus-Zentrum (dazu die Presseerklärung).

Quellen:
¹ Samuel N. Watson, «Those Paris Years», Book II, Chapter X, 1936 (Samuel N. Watson, D.D.; Officer of the Legion of Honor, France; Chevalier of the Order of Leopold, Belgium; Commander of the Order of Saint Sava, Serbia)
² Henry-Frédéric Amiel, «Journal intime», Tome XI (1877—1879), Editions L'Age d'Homme, Lausanne 1993, S. 446: «Jeudi 28 Mars 78. (…) † Dr. Jules Cossy, à Bex. — J'avais rêvé de lui la nuit dernière. Cette coincidence m'étonne. Le Dr. Cossy n'avait que 59 ans. Quand les médécins ne peuvent prolonger leur jours, cela éclaire sur la puissance de la médécine.»
³ DER SPIEGEL, Nr. 38/1991, 16. September 1991, Nachruf zu Michel Soutter
4 Michel Boujut, «‹L'Escapade› ou le cinéma selon Soutter», Ed. L'Age d'Homme
• Peter Hugs digitalisierte historische Lexika: «eLexikon»
• New Zealand's digitised newspapers and periodicals on «PapersPast»
• Christian Pfister/Roman Studer, «Swistoval», The Swiss Historical Monetary Value Converter, Historisches Institut der Universität Bern (Oct 15, 2010)
• le magazine historique des Transports Publics du Chablais
• Unterlagen der «Association du Mandement de Bex»
• Archives Cantonales Vaudoises, Office des poursuites et faillites de Bex, Section K (répertoire numérique/dossier de faillites)
• Unterlagen von Pierre-Yves Pièce, Guide du Patrimoine, Association «Cum Grano Salis»
• Library of the University of Pennsylvania, «Further Records, 1848-1883, A Series of Letters by Frances Anne Kemble (forming a sequel to records of a girlhood and records of later life), with a portrait of Mrs. Charles Kemble», Henry Holt and Company, New York, 1891; ein wunderbarer Auszug: Fanny Kemble's letters from Switzerland (1878)
«Les Fiches de Monsieur Cinéma», Hrsg: Images et Loisirs
• im Text genannte und eigene Unterlagen

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